Timoschenko, Wulff und die Nebeneinkünfte eines Kanzlerkandidaten: Wie entstehen eigentlich Skandale, und warum sind sie ganz plötzlich keine mehr? Hermann-Dieter Schröder vom Hans-Bredow-Institut in Hamburg hat dies wissenschaftlich untersucht.

Interview: Frank M. Wagner für die Agentur ET-Media (Berlin)

Herr Schröder, wie entsteht ein Medienhype wie im Fall Timoschenko, über den fast alle Medien lang und breit berichtet haben?

Schröder: Das Skandalisieren hat zunächst einmal drei Voraussetzungen: Das Thema, das skandalisiert wird, muss einen gewissen Neuigkeitswert haben, es muss relevant sein und darüber hinaus auch eine moralisierende Komponente enthalten. Diese moralisierende Komponente ist meistens eine Täuschung. Skandal bedeutet das Aufdecken einer  Täuschung in der Realitätskonstruktion. Die Täuschung wird dabei typischerweise von einem Amtsträger oder  einer Vertrauenspersonen begangen.

Können Sie dazu bitte ein Beispiel nennen?

Vertrauenspersonen sind beispielsweise Priester, die uns darüber hinwegtäuschen, dass es vorkommt, dass sie Kinder misshandeln – anstatt fürsorglich zu sein. Im Fall Timoschenko ist es so, dass es heißt: Die hat sich völlig falsch verhalten und deswegen greift der Rechtsstaat Ukraine jetzt mit einem rechtmäßigen Strafverfahren ein. Diese Realitätskonstruktion wurde insbesondere von den westlichen Medien massiv angegriffen, indem sie die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens gegen Timoschenko angezweifelt haben. Und da die staatichen Amtsträger beziehungsweise Vertrauenspersonen in der Ukraine diese Zweifel nicht plausibel entkräftet haben, kommt es zum Skandal.

Apropos „nicht entkräftet“: Zu diesem Stichwort fällt mir doch der Fall des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff ein.

Genau, bei Wulff kommt allerdings noch erschwerend hinzu, dass er das Fehlverhalten auch noch ganz gezielt vertuscht und gar versucht hat, die öffentliche Berichterstattung zu verhindern.

Der neue Bundespräsident hat sich bei einem Thema, das ein Skandal hätte werden können, ganz anders verhalten.

Gauck  hat ja bereits zu Beginn seiner Amtszeit gesagt: „Naja, meine Partnerin und meine Ehefrau, das sind zwei unterschiedliche Personen, das sage ich Euch gleich“. Wenn Gauck das vertuscht hätte, dann hätte man aus dieser Tatsache ganz locker einen Skandal machen können. Dann wäre die Vertuschung sozusagen der Anlass und der Aufhänger für den Skandal gewesen. Das hätte einen netten Skandal mit der Schlagzeile „Der Bundespräsident lebt in Bigamie“ geben können. Der Knackpunkt an Skandalen ist die Täuschung, die dazu dient, ein moralisch zu verurteilendes Fehlverhalten zu verdecken. Wenn es den Medien dann gelingt, diese Täuschung anzugreifen, aufzudecken und zu entkräften, dann wird sie zum Skandal. Nach der Entlarvung ist dann allerdings auch irgendwann auch die Luft raus. Dann ist die Realitätskonstruktion so nicht mehr haltbar und dann ist es nicht mehr eine Frage der Öffentlichkeit, sondern die Situation nimmt ihren Lauf.  Das heißt, der Bundespräsident nimmt beispielsweise seinen Hut und tritt zurück.

Wie ist die Situation bei Julia Timoschenko?

Bei Julia Timoschenko ist es so, dass weiter sehr fragwürdig gehandelt wird. Aber die Öffentlichkeit sagt: „Okay, Eure Vertuschung ist geplatzt, aber leider können wir nichts ändern“. So wie wir auch über Nordkorea wissen, dass dort Vieles nicht rechtsstaatlich läuft. Aber leider können wir das auch nicht ändern.

Als herauskam, dass die Griechen ihre  Daten für die Aufnahme in den Euro damals manipuliert und Falschangaben gemacht haben, gab es einen kurzen Skandal, als dies herauskam. In der Folge hatte dies aber keine weiteren Auswirkungen. Die Täuschung war das Problem und die Enthüllung der Täuschung erzeugt den Skandal.

Dieser Skandal erhalten die Medien beispielsweise nicht weiter am Leben.

Naja, wer hat ein Interesse daran, einen Skandal am Leben zu erhalten? Es gibt natürlich ein Selbstinteresse der Medien nach dem Motto: „Wir haben etwas aufgedeckt, oder zumindest einen Verdacht geschürt, der die Aufmerksamkeit des Publikums bindet – denn das ist unser professionelles bzw. kommerzielles Eigeninteresse“. In einem solchen Fall muss man noch weitere inhaltliche Aspekte nachschieben, damit das Publikum annimmt, dass es noch mehr relevante Neuigkeiten erfahren wird.

Das bedeutet im Umkehrschluss: Wenn Wulff gleich zugegeben hätte, wie sich die Situation tatsächlich darstellt, dann wäre die Luft raus gewesen. Dann hätte man vielleicht trotzdem noch darüber nachdenken können, ob er als Präsident tragbar ist. Aber: Richtig untragbar ist er  erst durch sein Verhalten in der Krisenkommunikation geworden.

Und dieses Verhalten hat dann noch einmal weitere Medien zu noch intensiveren Recherchen und Berichten animiert. Wie wird ein Skandal eigentlich größer, was bringt immer mehr Medien dazu, auf den Zug aufzuspringen?

Das wissen Sie möglicherweise besser als ich…

…naja, mit den skandalträchtigen Boulevardthemen habe ich mich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren eher am Rande beschäftigt…

Relevanz und Neuigkeitswert sind das A und O. Es reicht nicht, dass jeder schon wusste, dass  in der Ukraine ein Missbrauch des staatlichen Apparates zu vermuten ist und Timoschenko im Gefängnis sitzt. Davon abgesehen müssen immer weitere Neuigkeiten hinzukommen. Das war zum Beispiel bei Wulff der Fall. Wir haben die Nachricht zunächst von einem Medium gehört, und dann hat eine andere Zeitung gesagt „wir wissen noch mehr dazu“. Es gab also quasi eine Gegenrealitätskonstruktion der Journalisten, die die täuschende Realitätskonstruktion des Präsidenten angegriffen hat. Dann kann ein Medium natürlich erklären, es gebe noch einen weiteren Aspekt, ein weiteres Indiz, noch mehr Zeugen usw. Diese Berichterstattung lohnt sich, solange gesellschaftlich noch nicht ausgehandelt ist, wie denn die Realität denn nun tatsächlich aussieht.

Bei Wulff ging es dann soweit, dass er zurückgetreten ist und gesagt hat: „Ich habe Fehler gemacht, aber ich war immer aufrichtig“.

(lächelt): Da haben Sie genau den Punkt erwischt: Genau das, was den Skandal zum Skandal macht, nämlich die Täuschung, hat er bestritten. Denn er war ja gerade nicht aufrichtig, wie er erklärt hat. Denn er hat sogar versucht, die Täuschung sogar mit Hilfe des Einflusses auf den Bild-Chefredakteur fortzusetzen.

In so einem Fall wie bei Wulff oder Timoschenko muss die Recherche schnell und gründlich erfolgen. Wie können kleinere Redaktionen diese Arbeit eigentlich leisten?

Zunächst einmal greifen diese auf das Material der Agenturen zurück. Zum anderen gibt es ja auch noch den Unterschied zwischen Nachricht und Kommentar. Die Nachricht muss behaupten, dass sie wahr ist. Der Kommentar muss das nicht. Der hat ganz offen die Funktion, Schlussfolgerungen zu ziehen, Bewertungen vorzunehmen etc. Allerdings haben wir bei den Nachrichten oft die Situation, dass sich die Medien opportune Zeugen heranholen. Dann hat der Journalist einen sachverständigen Zeugen und den kann er dann als Hilfsperson zur Realitätskonstruktion heranziehen. Insofern ist die daraus entstehende Realitätskonstruktion nicht mehr nur seine eigene, wie etwa beim Kommentar. Er kann die Aussagen des Zeugen oder auch Experten vielmehr in eine Nachricht kleiden. Journalisten zitieren dann oft „wohlinformierte Kreise“. Das ist der schwächste Ansatz, mit dem man dann einen Verdacht mittels anonymer Zeugen streut.

Alternativ kann man auch einen Zeugen aussuchen, der kompetent genug ist, ihn als „Fachmann“ darzustellen. So etwas kann ein Journalist in einem Skandal prima machen, denn man hat immer gute Chancen irgendjemanden zu finden, der entweder eine bestimmte Meinung bereits vertritt oder dem man sie zumindest in den Mund legen kann. Denn der Befragte hat ja auch ein Interesse an seiner Zitierung, nämlich die PR für sich selbst.

Wieso bringen kleinere Lokalmedien den Fall Timoschenko auf der Titelseite, obwohl er für das Verbreitungsgebiet der Zeitung gar nicht relevant ist?

Zunächst einmal gilt: Das Weltbild der Leser eines lokalen Mediums speist sich nicht nur aus den Geschehnissen im eigenen, lokalen Bereich. Zweitens: Wenn man über Skandale im Ausland berichtet, dann zeigt man, dass man Skandale überhaupt für berichtenswert hält. Wenn eine Zeitung keinen der Skandale, der sich außerhalb des  eigenen Tellerrandes ereignet, wahrnehmen würde, dann würde dem Medium auch keiner mehr glauben, dass es Skandale im eigenen Gebiet wahrnehmen würde. Als Zeitungsredaktion braucht man also Selektionskriterien, um einschätzen zu können, welche Ereignisse den Relevanzkriterien der Leser entsprechen. Für die Leser sind Skandale eben auch wichtig. Und wenn Medien es nicht schaffen, Vertuschungen der Realität durch Dritte (wie etwa Amtspersonen) aufzudecken, dann haben Sie ihre Funktion als vierte Gewalt verfehlt. Und wenn die Medien zu Hause gerade nichts aufzudecken haben, dann ist es nicht falsch, die Skandale, die anderenorts passieren, mitzunehmen. Wenn es in der Ukraine Skandale gibt, die größer sind, dann nehmen die Medien eben diese.

Nun hat es schon vor oder neben dem Fall Timoschenko auch andere Skandale in der Ukraine gegeben. Die Inhaftierung der Musikgruppe „Pussy Riots“ ist beispielsweise so ein Thema. Darüber hat aber kaum ein Medium berichtet und schon gar nicht in größerem Umfang. Hat die Fußball Europameisterschaft für die Skandalgeschichte Timoschenko also eine wichtige Rolle gespielt?

Davon kann man ausgehen, weil die EM ein Zeichen dafür war, dass es nicht abwegig ist, zu unterstellen, dass sich das Publikum mehr für die Ukraine als beispielsweise für die Mongolei interessiert. Für unser Bewusstsein ist die Ukraine eigentlich furchtbar weit weg, hat mit der EU oder Nato nichts zu tun, ist wirtschaftlich und militärisch für uns unwichtig. Das Land hatte ein Problem mit den Gaslieferungen aus Russland. Ansonsten gab es ja noch die Orange Revolution, die dann irgendwann wieder verschwunden ist. Die Ukraine ist also eigentlich ein Thema, das nicht so interessant ist. Vor diesem Hintergrund Dann ist ein politischer Skandal, der mit der Beschneidung von Menschenrechten zu tun hat, immerhin schonbemerkenswert. Interessanter vielleicht als irgendwelche Musikgruppen, die Schwierigkeiten haben.  Julia Timoschenko ist zudem ja auch noch prominenter als die Pussy Riots.  Medial gesehen wäre es natürlich noch besser gewesen, man hätte Udo Lindenberg verhaftet (lacht). Da hätten wir dann ja alle sofort aufgeschrien, weil unsere Relevanzkriterien hier nochmal ganz anders sind.

Trotzdem ist die Ukraine etwas mehr in unseren Aufmerksamkeitsfokus geraten. Dies hat dann aber nicht lange vorgehalten. Ich glaube, noch während der Europameisterschaft war das Thema „Was ist mit Timoschenko?“ relativ erledigt. Das hatte auch damit zu tun, dass man beim Stichwort „Ukraine“ vor allem an unsere Fußballer gedacht hat. Man kann die Berichterstattung über die EM zwar nicht monokausal zuordnen. Aber Sie haben Recht, dass hier ein Zusammenhang besteht.

Kann man es sich leisten, als Medium bei Titel-Themen wie Timoschenko gegen den Strom zu schwimmen und das Thema nicht auf den Titel zu bringen, sondern dort beispielsweise die Energiewende zu  setzen?

Ja, darauf kommt es nicht an, man hat ja noch die Seite 2. Ein Thema völlig zu vergraben ist jedoch durchaus ein Problem.

Kann man grundsätzlich einen Skandal bewusst erschaffen und dann auch entsprechend kontrollieren?

 

Erschaffen ja. Kontrollieren nein, weil man dann nicht mehr der einzige Spieler ist. Wenn man beispielsweise in einem großen Unternehmen arbeitet und weiß, dass es Fehlverhalten gibt, dann kann man einen Skandal erschaffen, indem man das als sogenannter „Whistleblower“ auf den Markt bringt. Man kann dabei an Medien geraten, die nicht gleich die ganze Wahrheit auf den Tisch legen wollen, sondern kleine Andeutungen säen und diese langsam steigern. Diese Medien warten dann das erste Dementi als Reaktion ab und erklären: „Wir wissen längst mehr“. Insofern kann man die Entwicklung eines Skandals steigern.

Als Zeitung kann man den Skandal allerdings nicht knotrollieren, da es zu viele andere Mitspieler, also andere Medien,  gibt. Als Whistleblower ist eine Kontrolle erst nicht möglich. Als Beschuldigter kann man einen Skandal nur in so weit kontrollieren, dass man sehr schnell das Handtuch wirft und sagt: „Ja, das war ein großer Fehler, den ich gemacht habe, soll nicht wieder vorkommen“, oder man sagt: „So schlimm ist es doch gar nicht“. Beides ist möglich. Es gilt: Ein Geständnis verkürzt die Lebensdauer eines Skandals. Das ist eindeutig. Im Fall zu Guttenberg hätte der Minister vielleicht auch 14 Tage früher zurücktreten oder die Realität eher einräumen und den Titel vorher zurückgeben sollen. Dann wäre der Skandal vielleicht unproblematisch geworden. Aber Sie sehen hier genau dasselbe Verhaltensmuster, das man auch bei vielen anderen Skandalen erkennt: Es wird viel zu lange versucht, die eigene Realitätskonstruktion aufrecht zu erhalten, anstatt zu sagen: „Ja, oh, da haben Sie mich erwischt.“ Punkt.

Von EIC

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